Übersäuerung – wirklich eine stille Gefahr?
Erstellt von r.ehlers am Sonntag 24. November 2013
Sachbezug: Säure-Basen-Gleichgewicht, Übersäuerung, Azidose, latente Azidose, Säurepuffer, Symptome der Übersäuerung, Vorbeugung, Entsäuerung, Entgiftung, Entschlackung, Onmeda, Netdoktor, Medizingeschichte
Wer immer anfängt, sich für gesunde Ernährung zu interessieren, wird bald vom Streitthema der Übersäuerung eingeholt. Praktisch die gesamte sog. alternative Medizin, aber auch eine Reihe von klassisch ausgebildeten Therapeuten, oft Komplementärmediziner oder Ganzheitsmediziner genannt, geht davon aus, dass die stille Übersäuerung mit die größte gesundheitliche Gefahr für jeden Menschen ist.
Ein Thema also, an dem niemand vorbei kommt, der sich Gedanken über den Erhalt seiner Gesundheit macht (warum stießen Sie, verherter Leser, sonst auch auf den hier vorliegenden Beitrag?)
Die klassische medizinische Forschung, die sich nur an der Nachweisbarkeit von Ergebnisse messen lässt, erklärt die stille Übersäuerung aber für ausgemachten Humbug, weil sie keine Evidenz für eine allgemeine stille Gefahr der Übersäuerung findet.
Wichtig: Übersäuerung, Entsäuerung, Entgiftung (Umweltgifte) und Ver- und Entschlackung des Körpers sind verschiedene Themen
Auch wenn anzunehmen ist, dass in den Körper gelangende Giftstoffe wie Schwermetalle und Pestizide einerseits einen Einfluss auf den Säure-Basen-Haushalt des Körpers nehmen können und andererseits nicht ausgeschiedene Rückstände von Stoffwechselvorgängen, also sog. Verschlackungen, auch, geht es dabei nicht um das eigentliche Thema der Übersäuerung. In der Literatur werden diese Dinge aber zur Verwirrung des Publikums oft wild durcheinander geworfen. Zur Entgiftung und Entschlackung werde ich später gesondert schreiben. Im vorliegenden Beitrag beschränke ich mich bewusst auf die Frage, ob wir wirklich Sorge tragen müssen, durch falsche Ess- und Lebensweise körperlich zu übersäuern.
Medizinisch anerkannte Azidose und strittige stille Übersäuerung
Es gibt tatsächlich und allgemein anerkannt eine krankhafte Azidose, eine aktuelle starke Übersäuerung der Körperzellen und des Körpergewebes, die eine Reihe schwerer Krankheiten begleitet und den Menschen in Todesnähe führen kann.
Der pH-Wert gibt an, ob eine Flüssigkeit sauer oder basisch ist. Sinkt der pH-Wert im Blut unter 7,36, ist es übersäuert – es liegt eine Azidose vor. Steigt der Wert über 7,44, ist es zu basisch. Die Ärzte nennen das eine Alkalose. Die Verschiebungen im Säure-Basen-Verhältnis entstehen hauptsächlich durch eine Störung der Atmung – man spricht dann von „respiratorischer“ Alkalose oder Azidose. Daneben gibt es die weniger bedeutende stoffwechselbedingte, also „metabolische“ Ursache: durch Störungen beim Aufbau, Abbau oder der Ausscheidung von Säuren, durch die gestörte Bildung, Zufuhr oder den Verlust der Base Bikarbonat. Das Internetlexikon Wikipedia fasst die Zusammenhänge sehr anschaulich zusammen:
„Das Kohlensäure-Bicarbonat-Puffersystem ist der wichtigste Blutpuffer zum Auffangen von pH-Schwankungen im menschlichen Blutkreislauf. Es besteht aus der Kohlensäure (H2CO3) als Säure und dem Bicarbonation (auch Hydrogencarbonation genannt, HCO3–) als Base. Wenn das Blut nicht sauer genug ist, löst sich ein Proton (H+) von der Kohlensäure, die daraufhin zum Bicarbonation wird. Wenn das Blut dagegen zu viele Protonen enthält, also zu sauer ist, bindet das Bicarbonation ein Proton und wird zur Kohlensäure. Diese zerfällt zu Wasser (H2O) und Kohlenstoffdioxid (CO2). Durch verstärkte Atemtätigkeit wird dann vermehrt Kohlenstoffdioxid abgeatmet. Umgekehrt wird die Lungenaktivität gedrosselt, wenn zu wenig Säure im Blut ist. Nicht nur über die Atmung, auch über die Nieren kann der Säure-Basen-Haushalt beeinflusst werden. Denn sie sind in der Lage, Protonen und Bicarbonationen gezielt auszuscheiden oder im Körper zurückzuhalten. Auch bestimmte Bluteiweiße sind an der Regulation des Säure-Base-Haushalts beteiligt. Sie binden bei Bedarf Protonen oder setzen sie frei.“
Leichte Veränderungen des pH-Werts kann der Mensch meist nicht spüren. Erst starke Entgleisungen führen zu körperlichen Störungen. Das ist etwa bei schwerer Übersäuerung eines Diabetikers (Ketoazidose) der Fall. Ursachen einer krankhaften akuten Azidose können ferner Grunderkrankungen wie Asthma, ein Lungenemphysem oder eine chronische Nierenerkrankung sein.
Symptome solcher schwerer Azidose sind starke Übelkeit und schwere Kreislaufprobleme. Unbehandelt kann die Störung in ein Koma münden und lebensbedrohlich sein. Fehlen solche Symptome, liegt auch keine Azidose vor.
Die Frage, um die es immer wieder und auch mir hier geht, ist nur die, ob wir bei normaler Lebensführung damit rechnen müssen, dass uns die Säure-Basen-Balance in unseren Körperzellen und im ganzen Körpergewebe bis hinein ins Blut unmerklich verloren gehen kann und wir übersäuern. Kommt nicht die Tatsache, dass so viele Menschen heutzutage chronischen Krankheiten zum Opfer fallen, gerade von der Übersäuerung? Ist nicht die stille Übersäuerung schuld an dem immer häufigeren Vorkommen von Arteriosklerose, Tumoren, Arthrose oder Osteoporose?
Was macht sauer?
Unser Körper kann ohne Säuren nicht leben. Denken Sie nur an die unverzichtbaren Aminosäuren, die Fettsäuren, die Magensäure, Milchsäure, Hyaluronsäure (Teil des Bindegewebes), Folsäure (Vitamin B9), Essigsäure, Ascorbinsäure (Vitamin C), Phosphorsäure, Kohlensäure und insbesondere die Säure Hämoglobin, die über die Blutplättchen Hauptlieferant unseres Sauerstoffes im Körper ist, und die Citronensäure, die im Citratcyklus gebraucht wird, damit überhaupt in den Verbrennungskammern unserer Körperzellen unsere Körperenergie ATP (Adenosintriphosphat) hergestellt werden kann. Fast sollte man sagen: „Sauer macht lustig“, wenn es nicht so wäre, dass zuviel davon uns so schwer schädigt, dass wir jämmerlich eingehen, wenn der pH-Wert im Blut die 7,36 unterschreitet.
Tatsache ist, dass es Lebensmittel gibt, die in der Verstoffwechslung Säuren produzieren und andere, die basisch verstoffwechseln. Für Säuren sorgen insbesondere:
- Fleisch
- Innereien
- Fisch
- Käse
- Eiweiß
- Hülsenfrüchte
- Süßigkeiten
- Zucker
- Kaffee
- Teigwaren
- Fette
Basisch verstoffwechseln dagegen:
- Blatt- und Wurzelgemüse
- Kartoffeln
- Obst
- Kräuter
- Stilles Wasser
Ohne dass es dafür exakte wissenschaftliche Nachweise gäbe, ist es gut möglich, dass folgende Momente oder Ursachen eher die Säure- als die Blasenbildung begünstigen:
- Stress
- Rauchen
- Medikamente
- zu wenig Bewegung
- zu geringe Flüssigkeitsaufnahme
Darauf zu achten, was sauer und was basisch macht, ist aber völlig überflüssig, wenn unser Körper tatsächlich mit seinen Puffermöglichkeiten zuverlässig über die Einhaltung des Säure-Basen-Gleichgewichts wacht.
Interessante Beobachtung: die Kußmaul-Atmung
Wie schon gesagt, geschieht die Verringerung des Säuregehalts des Blutes hauptsächlich über die CO²-Abatmung durch die Lunge. Sie ist außerordentlich effektiv. Gleich was die Stoffwechselvorgänge an Säuren in den Körper bringen, schaffen wir es durch die Regulierung der Intensität unserer Atmung, skalengenau dafür zu sorgen, dass der Säuregehalt im Blut nicht den Wert von 7,36 unterschreitet.
Wie gut das funktioniert, zeigt sich bei den oben genannten schweren Erkrankungen, bei denen ein hoher Säureanstieg droht, wenn nicht mächtig CO² abgeatmet wird. Genau das aber tut der Mensch bei der sog. Kußmaul-Atmung. Dabei schürzt der Mensch nicht wir zum Küssen die Lippen. Kußmaul ist der Name des Arztes, der 1874 dieses Phänomen bei komatösen Diabetikern erstmals beschrieben hat. Er nannte dies die „große Atmung“, bei der der Kranke pausenlos sehr tiefe Atemzüge tut, wobei der Atmungsverlauf unter Zuhilfenahme der Atemhilfsmuskulatur stark vergrößert ist.
Weitere Säurepuffer
Über die schnelle Senkung des Säurepegels durch die Abatmung hinaus verfügt der menschliche Körper für eine ganze Reihe weiterer, längerfristiger Möglichkeiten der Pufferung von Säuren. Wichtige Beteiligte sind Lunge, Magen, Leber, Nieren und der Darm.
Über die große Bedeutung des Magens bei diesem Thema wird in der Fachwelt wenig gesprochen, sicher weil der Magen selbst ja ein bedeutender Säureproduzent ist. Meine diesbezüglichen Erkenntnisse sind hier im Detail nachzulesen:
http://www.essenspausen.com/verdauungsprobleme-oder-das-verheerende-regime-des-magens/ und
http://www.essenspausen.com/der-magenpfoertner-bedeutende-schaltstelle-fuer-die-gesundheit/.
Durch das komplizierte Magenprogramm wird gesichert, dass nur weitgehend neutralisierter Magenbrei den Magenpförtner passiert. Im Dünndarm werden die Reste an Säuren durch basische Sekrete aus Bauchspeicheldrüse und Galle gepuffert.
Die Leber, von der die Gallenflüssigkeit kommt, baut auch selbst Säuren ab und scheidet die Abbauprodukte über den Dickdarm aus.
Die Niere scheidet bei Bedarf über den Urin vermehrt Säuren aus und nimmt wieder Bikarbonat auf. Der Ausgleich funktioniert allerdings nicht sofort: Es dauert einige Stunden oder sogar Tage, bis die Niere die Säureausscheidung steigert; ihre Kapazität ist begrenzt. Je mehr Säuren über sie ausgeschieden werden, desto niedriger ist der pH-Wert des Urins.
Schlussfolgerung: Die stille Übersäuerung gibt es nicht.
Führt „falsches“ Essen wirklich zu dauerhafter Übersäuerung? „Ein gesunder Mensch mit normal funktionierenden Nieren kann seinen Säure- Basen-Haushalt über die Ernährung nicht bleibend durcheinanderbringen“, sagt Ernährungsmediziner Professor Dr. Andreas Pfeiffer von der Charité in Berlin. Eine gesunde Ernährung, die viel Gemüse und Obst enthält, ist zwar aus vielen anderen Gründen gut für den Körper. Das hat aber mit dem Säure- Basen-Haushalt nichts zu tun. Wenn ein durchschnittlich trainierter Mensch eine Stunde Sport treibt, ist er ebenfalls kurzfristig übersäuert. Aber seine Systeme gleichen das aus, sodass es ihm nicht schadet.
Wer sich also über ein 600 g– Porterhouse–Steak hermacht oder eine doppelte Portion Erbsensuppe genehmigt, gleicht den dadurch drohenden Überhang an Säuren im Blut kurzfristig durch einige tiefe Atemzüge aus, langfristig zusätzlich durch die vielen anderen Puffersysteme im Körper. Nichts ist also mit der latenten Übersäuerung!
Wird der Säurepegel im Blut gehalten, steigt er auch im sonstigen Gewebe des Körpers und in den Zellen des Körpers nicht über die zulässigen Werte hinaus an. Die sog. Basentherapie, die mit basischen Stoffen eine angeblich verminderte Pufferkapazität behandeln will, ist daher unnötig. Wahrscheinlich schadet sie aber auch nicht, weil der Körper auch die dadurch bewirkte Alkalisierung leicht durch Begrenzung der Atmung kompensieren kann.
Es spricht danach nichts dafür, dass eine chronische Übersäuerung die Ursache für die Entstehung diverser Erkrankungen wie z.B. Arterieosklerose, Arthrose, Osteoporose oder Tumoren wäre. Es fehlt dafür nicht nur die Evidenz, sondern schon die Wahrscheinlichkeit. Dies gilt auch für die Annahme, dass durch Messung des Urin-pH-Werts oder Blutuntersuchungen zuverlässig eine chronische Übersäuerung festgestellt werden könnte.
Ärztliche Gesundheitsratgeber im Internet: Onmeda und Netdoktor
In der Naturheilkunde wird von manchen Therapeuten angenommen, dass bereits geringe, im Labor nicht einmal messbare, Abweichungen des pH-Wertes gesundheitliche Beschwerden und schwere chronische Krankheiten auslösen könnten. Sie berufen sich auf ihre Feststellung unspezifischer Symptome wie Abgeschlagenheit, Verdauungsprobleme, Kopfschmerzen und Gliederschmerzen. Sie sollen Hinweise auf eine chronische Übersäuerung sein. Teilweise bringen sie auch Krankheiten wie Allergien, chronische Schmerzen, Migräne, Neurodermitis und Rheuma mit einem gestörten Säure-Basen-Haushalt in Verbindung. Das aber ist ganz offensichtlich zu kurz gesprungen.
Im Internet gibt es für den deutschsprachlichen Raum nur zwei ganz große von Ärzten kompetent und zumindest vorgeblich unabhängig betriebene Informationsportale, deren Rat meist wertvoller ist als wenn man die – oft einseitigen – Informationen über das Internetlexikon Wikipedia zusammensuchen wollte. Es handelt sich um
www.onmeda.de, betrieben vom großen medizinischen Springer-Verlag und www.netdoktor.at, betrieben vom Holzbrinck-Verlag.
Beim Thema Übersäuerung vertreten beide Plattformen krass unterschiedliche Standpunkte. Während Onmeda das Phänomen der stillen Übersäuerung ähnlich wie ich weit ins Reich der Phantasie abschiebt, erklärt Netdoktor, ohne dass nachvollziehbare Gründe genannt würden, dass die Übersäuerung leicht durch falsche Ernährung und falsche Lebensweise vorkommen und von den Puffersystemen des Körpers nicht kontrolliert werden könnte. Netdoktor empfiehlt daher ausdrücklich die Basentherapie, die Diagnose über den Urin und die Einnahme der „bewährten Qualitätsprodukte aus der Apotheke.“
Zu den anderen Informationsquellen im Internet, die sich wenigstens ehrlich als Sprachrohre der Anbieter von Basenprodukten outen, spare ich mir die Stellungnahme.
Ich verweise wegen des besonderen Interesses aber auch einen ungemein klugen Beitrag mit dem Titel:
Die Geschichte der Basenkost, Andrea Focke und Udo Pollmer.
http://www.deutschlandradiokultur.de/die-geschichte-der-basenkost.993.de.html?dram:article_id=154339
Erst wenn man mal nachvollzieht, wie im Mittelalter und vermehrt im 19. Jahrhundert das Fehlen des Wissens über die wahren Funktionen des menschlichen Körpers, auch sein Umgang mit Säuren und Basen, mit der Theorie der Übersäuerung des Körpersmit allein der Kraft der Überzeugung zugedeckt wurde, kann man verstehen, mit welcher Hartnäckigkeit auch heute noch an diesen Erkenntnissen festgehalten wird. Es scheint ja ganz allgemein so zu sein, dass gerade die ältesten Versuche der Menschheit, sich unbekannte Phänomene zu erklären, in der Folge mit der tiefsten Überzeugung verteidigt werden. Das gilt nicht nur für den Donnergott, die Sterne am Himmel, Geister und Engel, Gott und den Teufel und allgemein Gut und Böse. Die Menschen neigen dazu, auch in den Fragen des Erhalts ihrer Gesundheit und ihrer Wiederherstellung einfach eienm Glauben zu folgen und den gesunden Menschenverstand über Bord zu werfen,
S .http://www.essenspausen.com/horen-sie-auf-niemanden/
Dazu kommt, dass es inzwischen eine ganze Industrie gibt, die Basenmittel herstellt und loswerden will.